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9. Die Sängerin. Teil IV

Die anspruchsvolle Kantate für Sopransolo und Instrumente „O angenehme Melodei“ (BWV 210.1) von Johann Sebastian Bach kann also als ein Beispiel für „die stimmlichen Fertigkeiten Anna Magdalenas“ gelten und dürfte „ein gern dargebotenes Favoritstück“ (Schulze 1990, Seite 34) gewesen sein. (Siehe Beitrag Die Sängerin. Teil III“) Wer waren aber die „werthen Gönner“, die in einer der Textvarianten angesprochen werden? Dafür kamen in Leipzig viele Personen infrage. Dazu sei etwas weiter ausgeholt: Musik diente in der damaligen Zeit nicht nur der Ergötzung des Gemüts, sondern war auch ein Mittel der Repräsentation. In der Residenzstadt Dresden hielten sich nicht nur der Kurfürst ein eigenes Orchester, sondern auch Adlige in seinem Umfeld wie Heinrich von Brühl, Jacob Heinrich von Flemming oder Christoph August von Wackerbarth. (Kollmar 2006, Seiten 34 ff., 39 ff.; Paczkowski 2016, Seiten 109 ff.; Paczkowski 2019, Seiten 157 ff.) Dort gab es in mancherlei Hinsicht andere Strukturen als in der ebenfalls zum Kurfürstentum Sachsen gehörenden reichen Messestadt Leipzig. In bestimmten Bereichen orientierte sich die Leipziger Oberschicht aber durchaus an Lebensverhältnissen der Residenzstadt. So wurden höfische Titel so geschätzt, dass sie in den Leipziger Adressbüchern in der Rubrik „Personen mit besonderen Dignitäten“ noch einmal extra aufgeführt wurden. Das Repräsentationsbedürfnis zeigt sich besonders bei den zahlreichen prachtvollen Privatgebäuden, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Leipzig entstanden. Sie boten ihren Besitzern einen Rahmen, in dem sie Erreichtes präsentieren konnten. (Pevsner 1990, Seiten 1 ff.) Dazu sei nur ein Beispiel angeführt: Direkt vor der Stadt ließ sich der Königlich-Polnische und Kurfürstlich-Sächsische Cammer- und Bergrat Johann Christoph Richter (1689–1751) ein Landhaus errichten. Der Bau orientierte sich am Schloss Hubertusburg, einem Jagdschloss des Kurfürsten von Sachsen, der auch König von Polen war. Zu diesem Ensemble in Wermsdorf, einem Ort zwischen Leipzig und Dresden, gehörte auch ein Opernhaus. (Hochmuth 2019, Seiten 163 ff.) Natürlich war das Landhaus von Johann Christoph Richter nicht für eine Hofhaltung ausgelegt, aber es ermöglichte „bequemstes Wohnen und Repräsentieren“ (Pevsner 1990, Seite 123.) So besaß es einen „schönen Saal und in dem Seitenflügel einen großen dergleichen“. (Leonhardi 2010, Seite 106) Zum Ensemble gehörte eine barocke Gartenanlage. (Schulz 1884, Seite 456)

Das Gartenhaus von Johann Christoph Richter vor dem Hallischen Tor von Leipzig

nach einem Stich von Johann Martin Bernigeroth (Bearbeitung Steffen Junghans)


Johann Christoph Richter war Kaufmann und Ratsherr und bekannt für seine große Naturaliensammlung. Christiana Sybilla Richter geborene Bose, die „Herzens Freündin“ von Anna Magdalena Bach (Hübner 2005, Seiten 75 f.) war seine Schwägerin.

Damit ist nicht bewiesen, dass in diesem Anwesen eine Kantate von Johann Sebastian Bach aufgeführt wurde. Es wäre hier aber, wie in etlichen anderen Häusern der Stadt, ein sehr geeignetes Umfeld dafür gewesen.

Leider ist dieses von Johann Christoph Richter in Auftrag gegebene Ensemble nicht erhalten geblieben. So erging es auch vielen anderen prachtvollen Gebäuden, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Leipzig entstanden. Nur wenige haben überdauert. Einen kleinen Eindruck vermögen aber wohl noch der Sommersaal im Bose-Haus oder das Schloss Güldengossa in der Nähe der Stadt zu vermitteln. (Familienmitglieder der Besitzer dieser Häuser waren der Familie Bach übrigens durch Patenschaften verbunden.)

Für Leipzig ist nicht nachzuweisen, dass Privatkapellen gehalten wurden. Wenn aber vermögende Persönlichkeiten vor der Wahl standen, für Empfänge in entsprechendem Umfeld Stadtpfeifer zu engagieren oder für die musikalische Ausgestaltung den Capellmeister und Kurfürstlich-Sächsischen sowie Königlich-Polnischen Hofcompositeur Johann Sebastian Bach zu beauftragten, so dürfte eine Entscheidung im Sinne einer möglichst beeindruckenden Repräsentation naheliegend gewesen sein.

Es ist nicht davon auszugehen, dass Johann Sebastian Bach bei solchen Aufführungen auf Honorar und/oder geldwerte Gegenleistungen verzichtete, auch wenn eine nähere Bekanntschaft zum Auftraggeber bestand. Entsprechende Leistungen konnten nur in Ausnahmefällen „verschenkt“ werden. Im Haushalt der Familie Bach wurde mit Musik das Geld für den Lebensunterhalt verdient. Da musste strikt verfahren werden. Das wird zum Beispiel auch deutlich, als der Verwandte Johann Elias Bach, der mehrere Jahre bei der Familie gearbeitet hatte, um ein Exemplar der „Preußischen Fuge“ bat. Bei Eingang eines Talers, könne er das Gewünschte erhalten, erhielt er zur Antwort. (Dok I, Seite 117 f.)


Leipzig war aber nicht nur eine Handels- sondern auch eine Universitätsstadt. An der 1409 gegründeten Universität, wie auch an der Thomas- oder der Nikolaischule, gab es eine große Anzahl hochverdienter Männer, bei deren Ehrungen Musik angebracht war. Ein Beispiel aus Bachs Werken ist dafür die bereits erwähnte Kantate BWV 36. (Siehe „Die Sängerin. Teil III") In einer Textvariante dieses Werks (BWV 36.1) heißt es: „Du bist es ja, o hochverdienter Mann, der in unausgesetzten Lehren / mit höchsten Ehren / den Silberschmuck des Alters tragen kann. Dank, Ehrerbietung, Ruhm kömmt alles hier zusammen“. Mit verändertem Text und den Eingangsworten „Die Freude reget sich“ (BWV 36.3) erklang diese Kantate zu Ehren eines Mitglieds der Leipziger Gelehrtenfamilie Rivinus. (Schulze 2007, Seiten 701 ff.) Es handelt sich dabei um das gleiche Werk, das, mit angepasstem Text, beim Geburtstag der Fürstin von Anhalt-Köthen 1725 aufgeführt wurde. (Grychtolik 2021, Seite VI) Hier lautet die Eingangszeile „Steigt freudig in die Luft“ (BWV 36.2) Anna Magdalena Bach wirkte dabei im Solistenensemble mit. Diese Schlussfolgerung lässt eine erhaltene Rechnung zu. Es gibt keinen Hinweis, dass sie bei den Ehrungen der Gelehrten nicht ebenfalls als Sopranistin in Erscheinung trat.


Damit sind ihre Auftrittsmöglichkeiten vor Publikum in Leipzig aber nicht erschöpft. Darauf soll in „Die Sängerin. Teil V“ weiter eingegangen werden.















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