Zu Lebzeiten von Anna Magdalena und Johann Sebastian Bach war ein Zusammenwirken von Ehepartnern als Arbeitspaar oft anzutreffen. Bei heutigen Forschungen wird das aber meist erst nach dem Tod es Ehemanns sichtbar. Häufig übernahm die Ehefrau nämlich die Fortführung des bisher gemeinschaftlich geführten Unternehmens und erscheint nun in Schriftstücken. Darauf wurde bereits in „11. Johann Sebastian und Anna Magdalena Bach - ein Arbeitspaar: außerdienstliche Auftritte“ eingegangen, doch sei hier ein weiteres Beispiel dafür angeführt. 1735 gründete Abraham Vandenhoeck (um 1700–1750) in Göttingen einen Verlag, der noch heute unter dem Namen „Vandenhoeck & Ruprecht“ existiert. Nach seinem Tod erschienen die dort verlegten Publikationen unter dem Namen seiner Witwe. (Siehe die Abbildungen 1 und 2, die auch ein Bespiel dafür sind, dass zu dieser Zeit selbst die Rechtschreibung von Eigennamen keinen besonders strengen Regeln unterlag.) Anna Vandenhoeck (1709–1787) leitete den Verlag 37 Jahre, bis zu ihrem Tode. Unterstützt wurde sie dabei zunehmend von Carl Friedrich Ruprecht (1730–1816), der aber erst 1748 mit seiner Lehre in diesem Unternehmen begonnen hatte. Auch wenn Anna Vandenhoeck in entsprechenden Dokumenten zu Lebzeiten ihres Mannes nicht erscheint, muss sie schon zu dieser Zeit leitend in diesem Verlag tätig gewesen sein. Ansonsten hätte sie ihn nicht nahtlos übernehmen und erfolgreich weiterführen können. (Siehe Ruprecht 1935, Seiten 9 ff.)
Abbildung 1: Beispiel einer Veröffentlichung des von Anna Vandenhoeck geleiteten Verlags:
Ausschnitt des Titelblatts von Albrecht von Haller: „Versuch schweizerischer Gedichte, Siebendte Auflage der sechsten gleichförmig“, Göttingen 1751
Abbildung 2: Beispiel einer Veröffentlichung des von Anna Vandenhoeck geleiteten Verlags:
Ausschnitt des Titelblatts von Ludwig Timotheus Spittler: „Geschichte des Fürstenthums Hannover seit den Zeiten der Reformation bis zu Ende des siebenzehnten Jahrhunderts. Zweyter Theil“, Göttingen 1786
Auch im Haushalt der Familie Bach wurden Druckerzeugnisse verlegt und vertrieben. Im Nekrolog auf Johann Sebastian Bach sind die Werke von ihm aufgeführt, die er offenbar in besonderer Weise schätzte und zu seinen Lebzeiten „durch den Kupferstich, gemeinnützig“ machte:
„1) Erster Theil der Clavier Uebungen, bestehend in sechs Sviten.
2) Zweyter Theil der Clavier Uebungen, bestehend in einem Concert und einer Ouvertüre für einen Clavicymbal mit 2. Manualen.
3) Dritter Theil der Clavier Uebungen, bestehend in unterschiedenen Vorspielen, über einige Kirchengesänge, für die Orgel.
4) Eine Arie mit 30 Variationen, für 2 Claviere.
5) Sechs dreystimmige Vorspiele, vor eben so viele Gesänge, für die Orgel.
6) Einige canonische Veränderungen über den Gesang: Vom Himmel hoch da komm ich her.
7) Zwo Fugen, ein Trio, und etliche Canones, über das obengemeldete von Seiner Majestät dem Könige in Preussen, aufgegebene Thema; unter dem Titel: musicalisches Opfer.“ (Dok III, Seite 85 f.)
Auf den Titelseiten etlicher gedruckter Werke von Johann Sebastian Bach ist zu lesen: „In Verlegung des Autoris“. (Dok I, Seiten 224 f., 227 f., 230, 232 ff., 237). Das gilt auch für die Partiten, die er ab 1726 einzeln veröffentlichte, ehe er sie im ersten Teil der Clavier-Übungen (BWV 825–830) zusammenfasste. Die anderen Drucke entstanden in Zusammenarbeit mit Verlegern, wurden aber auch durch die Familie Bach verkauft. Gedruckte Werke weiterer Komponisten bot diese ebenfalls an, worauf in Zeitungsanzeigen aufmerksam gemacht wurde. (Dok II, Seiten 169, 256, 258, 262 f., 370, 393, 414 f., 446 f.)
Vom Umfang her war dieser Handel natürlich nicht mit dem des Verlags Vandenhoeck vergleichbar. Aber auch die Familie Bach investierte Arbeit in dieses Geschäft und erzielte damit Einnahmen. Dass Anna Magdalena Bach daran beteiligt war, wird nach dem Tod ihres Mannes sichtbar. In einer Berliner Zeitungsanzeige von 1751 ist sie unter den Herausgebern und Vertreibern der „Kunst der Fuge“ aufgeführt. (Dok II, Seiten 8 f., Dok V, Seite 182)
Von 1752 sind Zeitungsanzeigen erhalten, die in Berlin, Hamburg, Leipzig, Augsburg und Greifswald erschienen. In ihnen kündigte Carl Philipp Emanuel Bach, der Stiefsohn von Anna Magdalena, die Herausgabe eines Klavierlehrwerks an. (Siehe Spree 2021, Seite 260) Es erschien unter dem Titel „Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen“. Für den Vertrieb schuf sich Carl Philipp Emanuel Bach ein Netzwerk von Collecteuren. (Siehe Abbildung 3) Sie waren Ansprechpartner für Interessenten dieses Werks, sie boten es in ihrem Umfeld an, standen im Austausch mit Carl Philipp Emanuel Bach, ließen ihm die eingenommenen Beträge zukommen und lieferten die gedruckten Exemplare aus. In der Universitäts- und Messe-Stadt Leipzig war dafür die verwitwete Frau Capellmeisterin Anna Magdalena Bach verantwortlich.
Abbildung 3: Ausschnitt einer Anzeige der in Greifswald erscheinenen Critischen Nachrichten (Dritter Band. Dreyzehendes Stück, Seite 100) vom 29. März für den „Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen“ mit sieben der zwölf dort aufgeführten Collecteuren (Universität Greifswald)
Carl Philipp Emanuel Bach arbeitete mit seiner Stiefmutter bis zu ihrem Tode zusammen, was durch Anzeigen von 1759 belegt werden kann. Offensichtlich war er mit ihrer Arbeit zufrieden. Anderenfalls hätte er in Leipzig noch einen zusätzlichen Collecteur einsetzen können, wie er es in Berlin tat, oder die Zusammenarbeit beendet, wie er es an anderen Orten machte. Die Qualifikation für eine solche Aufgabe, kann Anna Magdalena Bach nur zu Lebzeiten ihres Mannes erworben haben, weil sie in den Handel mit Musikalien involviert war.
Auffällig ist, dass bei den angeführten Zeitungsanzeigen, die nach dem Tod ihres Mannes und dem Auszug aus der Dienstwohnung in der Thomasschule erschienen, keine Straßenangabe oder eine andere nähere Beschreibung angeführt wurden, wo sie erreicht werden konnte. Ihr Wohnort war offensichtlich in Fachkreisen bekannt. Das Wissen darum ging nach ihrem Tod verloren. Wie aus einem Abendsmahlseintrag hervorgeht, wohnte sie 1752 am Neuen Kirchhof in Leipzig. (Dok V, Seite 292)
Carl Philipp Emanuel Bach verstarb 1788. Nach dem Tod seiner Ehefrau Johanna Maria (1724–1795) teilte die gemeinsame Tochter Anna Carolina Philippina (1747–1804) im Hamburgischen unpartheyischen Corespondenten mit: „Der bisher von meiner sel. Mutter geführte Handel mit den Musikalien meines sel. Vaters und Großvaters wird inkünftige von mir mit der äußersten Aufmerksamkeit fortgesetzt werden.“ (CPEB-Dok, Seite 1293) Wenn es 1795 immer noch eine Nachfrage an Werken des „Großvaters“ Johann Sebastian Bach gab, so ist davon auszugehen, dass die Witwe Anna Magdalena Bach diese ebenfalls vertrieb. Eine Annahme, die so etwas ausschließt, ist wohl vor allem der Vorstellung geschuldet, die in ihr ausschließlich eine hilflose und deshalb bemitleidenswerte Witwe sieht. Auch der Begriff „Almos. Frau“ (Dok III, Seite 153), der bei ihrem Begräbniseintrag verwendet wurde, kann nicht als Beweis dienen, dass sie keinen Handel mit den Werken ihres Mannes betrieb und in ärmlichsten finanziellen Verhältnissen lebte. Almosenzahlungen der Stadt Leipzig können für diese Zeit auch für eine Witwe nachgewiesen werden, die über Dienstpersonal verfügte. Die Almosenstube der Stadt unterstützte Frauen, die durch den Tod ihres Mannes aus finanziellen Gründen nicht mehr ihrem Stand entsprechend leben konnten und nach ihren Möglichkeiten selbst zu ihrem Auskommen beitrugen. (Spree 2021, Seiten 192 ff., 196 f.)
Es ist nicht bekannt, wie hoch die Einkünfte der Familie Bach durch den Musikalienhandel waren, doch es kann festgehalten werden, dass Anna Magdalena Bach in ihn involviert war. Ein solcher Handel betraf nicht nur gedruckte Werke. Bis Ende des 18. Jahrhunderts spielte der Vertrieb von handschriftlichen Musikalien eine große Rolle. Das kann auch für die Familie Bach nachgewiesen werden und daran war Anna Magdalena ebenfalls beteiligt. Darauf soll im nächsten Beitrag eingegangen werden.
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